In einem Beitrag Syrien und die virtuelle Welt habe ich über einen unbewussten Denkfehler hingewiesen, den manche Menschen unabsichtlich machen. Um Geflüchtete Menschen aus Syrien zu verstehen und die Gründe für manche Herausforderungen zu analysieren, liest man ein Buch über Syrien, wie z.B. das sehr empfehlenswerte Buch von Gerhard Schweizer Syrien verstehen, das sehr interessante Beiträge zu aktuellen und historischen Themen, wie Wurzeln des anti-westlichen Nationalismus, Frauenrechte in Koran, Hadith und Scharia usw. beinhaltet. Es gibt neben diesem Buch auch weitere speziell zu Syrien, die das Land und die gesamte Region sowie die Religionen analysieren und für die Leser verständlich machen.
In den Integrationsabenden und Workshops mit syrischen Geflüchteten werden die Inhalte dieser Büchern mit den Teilnehmenden diskutiert. Das Lernziel dabei ist, das Fremdbild zu wissen: was denken Deutsche bzw. Menschen in den deutschsprachigen Medien über Syrien und Syrer, ihre Religion, Geschichte und Traditionen und woher kommt das wissen? Interessante und aussagekräftige Beiträge von syrischen Geflüchteten werden als Ad-hoc Datenerhebung für spätete Auswertungen gesammelt. Folgende drei Aussagen sind am interessantesten und wurden von 60% der Teilnehmenden vertreten (N=56, m, M=29):
- “Warum reden sie nicht mit uns statt ein Buch über uns zu lesen?”.
- “Es gibt ganz viele schlaue Leute aus Syrien, die eine authentische Analyse über das Land geben können als solche Fremdbeschreibung”
- “Die Deutschen analysieren uns aus ihrer Sicht und mit ihren Mitteln und Instrumenten und entwickeln Lösungen für uns aus ihrer Sicht. Wir sind das Objekt, mit dem man machen, was man will!”
Der Markt von Seminaren zum Thema Umgang mit Flüchtlingen, Interkulturelle Kompetenz für Ehrenamtliche und Flüchtlingshilfe usw. boomt und das ist übrigens sehr wichtig und macht Sinn, um kulturbedingte Herausforderungen zu antizipieren und passende Lösungen zu finden. Allerdings machen anekdotenhafte Veranstaltungen, betitelt mit “Syrer verstehen: Kommunikation mit Jungen Leuten aus dem Morgenland” oder “Syrien verstehen für Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe” wenigeren Sinn, wenn sie sich auf Syrien vor dem Krieg beziehen und inhaltliche Informationen daraus ableiten. Alle Teilnehmenden in meiner Befragung bestätigen, dass Syrien und Syrer vor dem Krieg haben nichts mit Syrien und Syrern nach dem Krieg zu tun. Ein Teilnehmende bringt das auf den Punkt:
“Alles was wir früher gemacht haben, ist jetzt ganz weg und für immer gegangen: Das Vertrauen an Freunden, Nachbarn, Bekannten usw. ist weg. Die Unbekümmertheit und Gelassenheit ist weg. Wir haben alles verloren und ich möchte schon gestern ein normales Leben wieder haben – ein biscchen normales Leben, egal wo, egal in welcher Kultur, egal wer die Nachbarn sind, egal was sie sprechen. Ich fange von Null an und alles, was ich kannte, was mir vertraut ist, ist weg, für immer weg. Ich fange von Null an und ich bin den Menschen in Deutschland, die uns aufgenommen haben, sehr sehr dankbar und ich hoffe, irgendwann kann ich das zurückgeben. Es wäre gut, wenn sich die Menschen mit uns jetzt beschäftigen und mit uns jetzt reden und sich weniger interessieren für, wie wir waren oder woher wir kommen, denn wir jetzt ganz anders geworden sind!”
Es existiert wenig empirisches interkulturelles Wissen über Syrien, das unsere Annahmen und Hypothesen beschreiben und begründen kann. Wenn die Theorien des interkulturellen Managements über Middle East bzw. Arabic Cluster reden, wie Globe Study, dann meistens findet man Datenerhebungen aus Ägypten, Marokko, Jordanien oder Saudi Arabien. Andere Studie, wie Facework in Syria and the United States: A cross-cultural comparison beziehen sich auf die sehr bekannten Kulturdimensionen von Gert Hofstede (Die Scores von Syrien in dieser Studie sind wie folg – kleine Zahlen geben Hinweis auf niedrige Ausprägung, große Zahlen geben Hinweis auf hohe Ausprägung)
- Machtdistanz: 80 (Akzeptanz von Ungleichverteilung von Macht)
- Individualismus und Kollektivismus: 35 (Zugehörigkeit zu einer Gruppe)
- Maskulinität versus Femininität: 52 (Unterscheidung zwischen Frauen- und Männerarbeit aber auch Fürsorglichkeit und Kooperation als kollektive Werte)
- Ungewissheitsvermeidung : 60 (Orientierung an Regeln und Vorgaben)
Es wurde viel über diese Dimensionen geschrieben sowie viel Kritik und einiges findet man z.B. in einem Artikel von Alexander Thomas und Astrid Utler.
Ich plädiere dafür, dass der inhaltliche Fokus von Workshops und Trainings zum Thema Kommunikation mit Geflüchteten aus Syrien nicht schwerpunktmäßig auf die wenigen Studien über Syrien vor dem Krieg gerichtet werden soll, sondern eher auf die momentane Situation der Gruppe bzw. des Individuums. Ich plädiere für eine ausgewogene Inhalte, die nicht nur auf Kultur der Syrer vor dem Krieg bezieht, sondern Aspekte der Situation und der individuellen Biographie behandelt. Das ist sehr wichtig, um echte und evaluationsfähige Bildungsziele zu erreichen, und nicht nur Marketing-Strategien und ökonomische Ziele zu verwirklichen.