Eine besorgte Teilnehmerin an einer Abendveranstaltung in der Stadt Radolfzell am Bodensee erzählt, warum sie mit der aktuellen Flüchtlingspolitik nicht zufrieden ist und das alles auf sie persönlich wirkt und ihre Freiheit einschränkt. Ich habe sie gefragt, ob sie ein konkretes Erlebnis aus ihrem Leben in den letzten vier Wochen ausschildern kann, damit die anderen Teilnehmenden das nachvollziehen können, denn über die Hälfte der anwesenden Teilnehmenden solche Erfahrungen überhaupt nicht gemacht haben. Die 84 jährige sagte, dass Flüchtlinge keinen Platz für sie machen wollen, wenn sie sich hinsitzen möchte und dass sie die Enten und Wasservögeln füttern und das kränkt sie und sie kann nichts dagegen machen, obwohl sie Wut und Enttäuschung Tag für Tag empfindet.
In einem Spaziergang am nächsten Tag sah ich einen Mann im mittleren Alter Enten füttern. Ich habe die Szene ca. 5 Minuten beobachtet und einige unzufriedene Kommentare von Passanten und sitzenden Menschen gehört. “Das gibt es doch gar nicht. Er füttert die mit Muffins und Kuchen. Oh Gott oh Gott” sagte eine Stimme. Ich bin direkt zum Mann gegangen und mich mit ihm ca. 30 Minuten auf Arabisch unterhalten. Der Syrer sammelte sein mitgebrachtes Brot usw. und hat versprochen, dass er keine Enten mehr füttern wird und dass er soweit nicht gedacht hat, dass einige Leute das Füttern von Enten nicht sehen wollen. Wie habe ich dieses Ergebnis erreicht. Wie ist es gelungen, das Verhalten des Mannes in ca. 30 Minuten zu ändern? Ohne zu modellieren und philosophieren habe ich festgestellt, dass man das unerwünschte Verhalten Anderer verändern kann, wenn man folgende Möglichkeiten versucht:
Abwehrhaltungen zuhören, ernst nehmen und nicht dagegen argumentieren: “ich war über all auf dieser Welt. In China, in Florida, in Argentinien. Die Leute dort und vor allem die Touristen füttern die Enten und keine hat was dagegen. Im Gegenteil: die Einheimischen freuen sich darüber. Und warum soll sich eine 84 Jährige darüber ärgern?”. “Sie ärgern sich, weil wir Araber sind. Das ist die Wahrheit. Egal was du machst, Sie finden immer irgendwas, was ihnen nicht gefällt”. “Mein Cousin lebt hier seit 20 Jahren und er hat immer ein Problem, eine Wohnug zu finden. Warum? weil er einen arabischen Namen trägt” Mein Gesprächspartner hat die ganze Palette an Vorurteilen, Stereotypen und erlebten bzw. imaginierten Diskriminierungserfahrungen ausgespuckt und möglicherweise das Gespräch genutzt, um seine Frustrationen, Enttäuschungen und Ängste loszuwerden. Ich habe das alles angehört, bis der Mann sich beruhigt hat und in der Lage war, sich rational statt emotional zu reagieren. Anschließend kann man die zweite Möglichkeit versuchen.
Präzisieren, um die Gründe für die emotionale Reaktion zu identifizieren: “Ich bin Deutschland sehr dankbar. Die Menschen hier sind echt sehr freundlich und respektieren dich, egal wer du bist”. “Ich hatte nicht erwartet, dass die Deutschen uns so mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft empfangen. Ich weiß auch nicht, wie ich meine Dankbarkeit zurückgeben kann”. “Ich bin enttäuscht vom Schicksal. Ich habe ganz normal in Damaskus gelebt. Ich hatte eine Villa und meine eigene IT-Firma. Ich bin geflohen aus Syrien, weil ich Angst um Kinder hatte, denn viele Kinder wurden in den letzten 2 Jahren gekidnappt und deshalb bin ich geflohen im Oktober 2015 aus Syrien”. “Ich bin enttäuscht, wütend und zornig, weil ich mein normales Leben nicht wieder haben kann.” Die Gründe für die emotionale Reaktion haben also nicht mit Enttäuschung aus Deutschland oder den Deutschen zu tun, sondern eher mit der Unkontrollierbarkeit der Bedingungen zu tun. Im Gegenteil der Syrer ist den Deutschen sehr dankbar, weil er hier Schutz und Hilfe gefunden hat. Aus dem Gespräch erkennt man, dass er bereit ist, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben. Hier kann man die dritte Möglichkeit einsetzen.
Begründung nennen, warum manche Menschen bestimmte Verhaltensweisen nicht akzeptieren können: Ich habe dem IT-Fachmann aus meinem Smartphone einen Artikel gezeigt, in dem steht, warum man Enten nicht füttern soll. Wir haben den Artikel zusammen gelesen und er war sehr erstaunt, das er alles dies nicht wusste. Das war wie ein Augen-Öffner für ihn. Aus dem Nicht-Wissen, folgt Wissen, dann Akzeptanz.
Akzeptanz von allgemeingültigen Regeln und sich entsprechend zu verhalten ist ein Beispiel, wie man Dankbarkeit gegenüber der aufnehmenden Gesellschaft zurückzugeben: Muslimische Missionare benutzen dieses Prinzip der interpersonalen Kommunikation in ihrer Arbeit. Man redet mit einem Menschen solange, bis er zugibt, dass sein Verhalten nicht gottgefällig ist und er bestimmt selber seine Korrektur. Der IT-Fachmann versteht die Gründe, warum manche Menschen das Füttern von Enten nicht sehen sollen. Er versteht auch, dass Orientierung an Regeln und Konventionen stark kulturell eingebetet in Deutschland ist. Er versteht auch, dass wenn er sich an diesen Regeln und Konventionen orientiert, wird er sich zumindest nicht auffällig verhalten und nicht als eine direkte Bedrohung von manchen besorgten Bürgern wahrgenommen wird. Im Gegenzug kann das Verzichten auf eine Sache, die er gerne mag, als Möglichkeit für das Zeigen seiner Dankbarkeit interpretiert werden kann.
Was hat das ganze mit Interkulturalität zu tun? Lesen Sie nochmal in Ruhe nach: Emotionalität, Orientierung an Regeln, persönliche Distanz, Akzeptanz erst nach Begründung, zirkuläre Kommunikation usw. Was ist Arabisch? Was ist Deutsch?
Viel Erfolg beim Umsetzen!